Auf einem provisorischen Friedhof werden die Gräber von grünem Gras umhüllt. An einem Grab steht ein Mann und betet, neben ihm ein kleines Mädchen, das sich stark von der Umgebung durch ihre lila Jacke abhebt. Nachdem Zafer sich von seinem dort begrabenen Vater verabschiedet hat, genießt er zu Hause noch einen letzten Moment mit seiner Tochter, bevor er das Land verlässt. Seine leeren Augen füllen sich mit Panik, als er ein Live-Video zugeschickt bekommt, in dem er und seine Tochter am Esstisch zu sehen sind und ihm aufgeht: Er wird beobachtet.
In ihrem neuesten Film „Im toten Winkel“ stellt Regisseurin Ayşe Polat die Frage, wie wir mit der Vergangenheit umgehen. So reist bei ihr ein deutsches Filmteam in den Nordosten der Türkei, um eine Dokumentation über eine kurdische Familie zu drehen, die ihren Sohn Baran verloren hat. Die Ankunft der Leute aus dem Ausland in der Türkei bringt Dynamik in eine verschleierte Vergangenheit, von der sowohl Opfer als auch Täter betroffen sind.
Den Beginn inszeniert Polat ähnlich wie den einer echten Dokumentation. Im Zentrum steht die kurdische Dorfbewohnerin Hatice. Der Verlust ihres Sohnes sitzt tief, obwohl sein Tod schon über zwei Jahrzehnte her ist. An jedem Wochentag, zur selben Uhrzeit, bereitet Hatice dieselbe Portion Suppe für ihren Sohn vor, als Akt der Erinnerung.
Die Bilder vom Dorf und der anatolischen Landschaft sind, wie so oft bei Filmen zum Thema, von Melancholie gezeichnet. Hinzu kommt in diesem Fall der nicht enden wollende Schmerz von Hatice, nicht mit der Vergangenheit abschließen zu können. Bei alldem betritt das deutsche Filmteam, wie die Zuschauenden, unbekanntes Territorium. Sie werden die Hintergründe dieser Ereignisse auf hartem Wege erfahren.
wie Puzzlestücke nach und nach ergänzen. Sie nähert sich dem Umgang mit Vergangenem aus unterschiedlichsten Betrachtungsweisen an: der eines Filmteams, der eines Mitglieds der rechtsextremen Gruppierung Graue Wölfe und der eines kleinen Kindes. Zwar beginnt der Film ruhig, verliert ab dem zweiten Kapitel aber nicht mehr an Spannung.
Dort betritt besagter Zafer das Bild, ihm steht die Wahrheit auf seinen Schnauzer geschrieben. Denn er ist ein Grauer Wolf und als solcher in einer Gruppierung tätig, die überzeugt davon ist, die Türkei von all denen reinigen zu müssen, die nicht das Mutterland lieben. Für sie sind das die kurdischen Bewohner, die auf ihre Identität bestehen.
Allein um das Wort „Kurden“ wird ein großer Bogen gemacht, so wird aus dem kurdischen Anwalt ein „Terroristen-Anwalt“. Die Aufgabe von Zafer und seinen Wölfen ist es, diesen Anwalt im Auge zu behalten und an seiner Arbeit mit dem Filmteam aus Deutschland zu hindern. So versuchen sie aktiv, die Vergangenheit zu verschleiern.
Zafer verhält sich aber, anders als seine Kollegen, eigenartig. Denn er wird verfolgt, wie sich an den Videos und Fotos von seinem Aufenthalt zeigt, die er ständig zugeschickt bekommt. Diese sind creepy inszeniert und schaffen eine mysteriöse, fast übernatürliche Stimmung. Verstärkt wird dies durch Zafers lila gewandete Tochter Melek.
Ästhetik zwischen „Tatort“ und türkischer Soap-Opera
Sie legt à la „Shining“ eine unheimlich wirkende Naivität an den Tag, da sie einen unsichtbaren Freund hat, der Dinge sieht, die selbst den Anwalt und Zafer einschüchtern. Und so nimmt Zafer die Videos als eine Drohung wahr, die ihn veranlasst, selbst alles und jeden mit der Handykamera zu filmen. Hierbei spielt Polat mit dem Format und verwendet hochkantige Handyaufnahmen, die das Bild verengen und ein klaustrophobisches Gefühl erzeugen.
Ästhetisch beeindruckt der Film jedoch nicht weiter, visuell liegt er irgendwo zwischen „Tatort“ und türkischer Soap-Opera, ohne große visuelle Experimente. Viel eher verstärken scharfe Bilder in Nahaufnahme vor verschwommenem Hintergrund den Eindruck eines dialoggetriebenen Films, in dem die Mimik der Schauspielenden im Vordergrund steht.